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Von Zeitknappheit und Zeitwohlstand

09.09.2022

Zeit ist etwas merkwürdiges. Wir nehmen sie meistens dort wahr, wo sie gerade nicht ist. Also wo sie fehlt oder schon wieder vergangen ist. Als etwas, was ständig vergeht und ständig knapp ist. Nicht als etwas, was ständig neu entsteht.

So auch im Alltag von Kollektiven. Immer bleibt etwas liegen. Und immer gibt es zu wenig Zeit, um alles Wichtige zu besprechen. Vor allem das, was mehr Zeit und Ruhe bräuchte, was sich dem „abhaken“ widersetzt. Das wird dann aufgeschoben. Denn der Laden muss ja am Laufen gehalten werden. Das Alltagsgeschäft muss weiter gehen. Auf der Strecke bleiben häufig ausführliche Gespräche, langwierige Runden und der Austausch verschiedener Sichtweisen. Aber auch , das gemeinsame Reflektieren, das in die Tiefe gehen und leider damit die Erarbeitung gemeinsamer Positionen.

Die wöchentliche Plenumszeit beträgt bei vielen Kollektiven im Schnitt eineinhalb Stunden. Sonst wird natürlich auch miteinander geredet. Aber es ist doch meist die Zeit, in der alle wirklich zusammen kommen und sich gegenseitig hören können.

Sie wird oft am Ende des Tages hintendran gehängt. Ist ja eigentlich auch keine ‚richtige‘ Arbeit mehr. Wenn alle ohnehin schon müde sind, muss noch das Plenum durchgestanden werden, bevor alle nach Hause ‚dürfen‘. Manchmal bleibt nur das Wochenende, womit das Plenum in Konkurrenz zu dringend notwendiger Erholung steht. Manchmal muss in Betrieben der Laden für ein paar Stunden zugemacht werden, mit dem nagenden Gefühl, gerade nötigen Umsatz zu verlieren.

Und so stört das Plenum oft eher, wird dazwischen geklemmt und verkommt zur Pflicht-Veranstaltung.

Weil es die Anfahrtzeit spart und sich noch leichter im Tagesplan zwischendrin unterbringen lässt, weichen viele inzwischen auf online-Plena aus. Sehr praktisch, wenn die Kollektivist*as gar nicht mehr an einem Ort sind und trotzdem Infos ausgetauscht werden können. Aber das Zusammensein ersetzt es nicht… und das wissen wir alle.

Wenn wir gemütlich in einem Raum sitzen, bei Tee, Kaffee, selbstgebackenem Kuchen und angenehmer Temperatur: erst dann merken wir die kleinen und doch so entscheidenen Nuancen in der Kommunikation miteinander. Dazu gehören u.a. die Spannungen, wenn wir über heikle Themen reden. Nur so können wir uns vergewissern, wie das Gesagte angekommen ist, gibt es gerade Offenheit für meinen Einwand, mein Anliegen? Und, wenn wir uns gestritten haben, können wir uns danach auch wieder in den Arm nehmen?

Für den Infoaustausch reicht oft ein Online-Gespräch. Selten aber für strittige oder grundlegenden Themen. Und auf Dauer gar nicht.

Das Spannende an gemeinsamen Treffen ist, dass genau hier das Kollektive entsteht, es spürbar und erlebbar wird. Es ist kein zufälliges Zusammentreffen von Einzelkämpfer*innen. Es ist ein gemeinsames Entwickeln, Entwerfen und Gestalten. Um ein Kollektiv zu bilden müssen unsere einzelnen Gedanken, Vorstellungen und Projektionen zusammen kommen. Dadurch wird erst eine gemeinsame Erzählung geschaffen. Auch bei Unterschieden, kann sich eine gemeinsame Sichtweise, nämlich ein geteiltes Verständnis der Unterschiede, entwickeln. Mit den verschiedenen einzelnen Perspektiven und Ideen regen wir uns gegenseitig an. Daraus entsteht wesentlich mehr, als wir jeweils allein hinbekommen hätten.

Und das entsteht nur, wenn alle sich einbringen und äußern. Monologe, schweigendes Zuhören oder etwa das Starren auf den Monitor reicht nicht. Wiederholungen sind hier meist keine Zeitverschwendung. Vielmehr sinnvoll dafür, sicher sein zu können, welche Sichtweisen wir teilen und wie genau unsere gemeinsame Geschichte aussieht.

Dieses Reden, Zuhören und Wiederholen braucht viel Zeit. Je größer die Gruppe ist, um so mehr. Einen halben oder ganzen Tag die Woche, mehrere Stunden an einem Tag, mehrere Tage am Stück, mehrmals im Jahr… der Bedarf ändert sich ständig.

Unsere Erfahrung ist: Gruppen, die sich mehr Zeit dafür nehmen, funktionieren besser. Der ‚Zeitwohlstand‘ führt vermehrt zu einem Wohlstand an Verbindung und Klarheit. Und Spaß an der Sache. Zeit ist nicht immer Geld, sondern erst mal Wohlbefinden. Zusätzlich verhindert es an anderer Stelle langwierige zähe Blockadesituationen und nervenzermürbende Konfliktbearbeitungen.

Die gemeinsamen Gespräche sind kein nerviger Anhang an kollektives Arbeiten! Für die andere Gesellschaft, die wir gemeinsam nach unseren Bedürfnissen gestalten wollen, sind sie unerlässlich. Und für selbstorganisierte Gruppen ein zentrales Fundament. Wenn wir etwas gemeinsam machen wollen, ist die Pflege der Kommunikation Teil der Arbeit.

Warum machen wir das eigentlich? Was sind unsere gemeinsamen Grundlagen? Und wo wollen wir hin? Das alles sind wesentliche und wiederkehrend zu beantwortende Fragen.

Das Schlagwort Selbstausbeutung meint in der Regel das wenige Geld, das viele haben. Doch was zählt der Wohlstand der Teilhabe und Gestaltung, der Wohlstand an Selbstbestimmung und der Gemeinschaftlichkeit? Und letztlich auch ein Wohlstand an Kommunikation, Gesehen werden und Verständnis.