AGBeratung

„Da haben wir jetzt keine Zeit für…“

10.07.2015

Erstmal müssen wir zuende bauen, dann können wir uns Zeit für die Gruppe nehmen. Wir müssen zuerst den Laden zum Laufen bringen, damit Geld reinkommt, dann können wir uns um unseren Binnenvertrag kümmern. Jetzt gerade ist es so stressig und wir haben so viel zu tun, jetzt haben wir keine Zeit dafür unsere Konflikte anzugehen.

Immer wieder kommt es in der Anfangszeit von Projekten dazu, dass die berüchtigten Sachzwänge ganz groß werden und vermeintlich logisch und unausweichlich die Entwicklung des Projektes zu diktieren beginnen: Die Miete für den Laden muss erwirtschaftet, Kredite müssen eingeworben, Gutachten für die Bank geschrieben werden, Angebote müssen abgegeben und es muss fertig gebaut werden. Auch eine Rechtsform zu gründen wird oft zu den Sachzwängen dazugerechnet. Was hinten runter fällt, sind: gemeinsame Muße-Stunden, das gründliche Aushandeln interner Vereinbarungen, das Klären von Konflikten, das Feiern großer und kleiner Erfolge, sich bewusst Zeit zu nehmen für Lernprozesse – kurz alles was zur Beziehungspflege beiträgt. Das alles wird auf später verschoben. Das aktive Gestalten der Gruppe als sozialen Zusammenhang scheint kein Sachzwang zu sein, sondern Luxus. Aber warum? Warum wird das eine zum Sachzwang und das andere nicht? Und ist das wirklich so?

Oft kommen Dritte ins Spiel an denen sich orientiert wird. Diese scheinen die Regeln vorzugeben. Wir scheinen da drin fremdbestimmt ohne eigenen Handlungsspielraum. Aber ist das immer so zwingend? Sicher, die Miete muss bezahlt werden, wenn wir den Laden jetzt anmieten. Aber brauchen wir den eigenen Laden jetzt schon? Können wir nicht erstmal klein anfangen, uns erstmal mit einem bestehenden Projekt zusammen tun und deren Räume tageweise nutzen, oder den Versand aus einem privaten Wohnzimmmer heraus organisieren? Und müssen wir die Miete über den Verkauf unserer Waren reinbekommen, oder gibt es noch andere Finanzierungsmöglichkeiten? Müssen wir wirklich in zwei Jahren mit dem Bauen fertig sein? Und brauchen wir wirklich jetzt schon eine Rechtsform?

Hinter den vermeintlichen Sachzwängen stehen Entscheidungen. Unsere Entscheidungen. Und wir bauen uns oft selbst die Box, die uns dann einengt. Wir definieren den Sachzwang, der dann seiner Logik nach nur eine einzige Handlungsmöglichkeit offen lässt: Nämlich die, die von der Sache diktiert wird, nicht die, für die wir uns aktiv und bewusst entscheiden. Wir schränken unser Denken damit enorm ein.

Der Mythos der Effektivität ist so eine andere Falle. Die Beziehungspflege, die gemeinsamen Prozesse des Aushandelns und Klärens brauchen vermeintlich zu viel Zeit. Entscheidungen über Rechtsformen, Bauaktionen etc. scheinen sich als angeblich sachliche Fragen hingegen, schnell durch Expert.innen entscheiden zu lassen. Aber ist das so? Können wir Entscheidungen treffen über Baufragen, Rechtsformen etc. wenn wir nicht wissen, was unsere Prioritäten sind, was uns wichtig ist, womit genau wir unsere Zeit verbringen wollen?

Das Aufschieben hat oft weitreichende Konsequenzen. Das Wohlgefühl in der Gruppe leidet und sogar die gemeinsame Perspektive.

Wenn wir die ersten Spannungen in der Gruppe überspielen bis wir einen eskalierten Konflikt haben; wenn wir erst, wenn wir fertig gebaut haben, uns darüber verständigen wie wir zusammen wohnen und arbeiten wollen, dann kann es uns passieren, dass wir uns bereits schleichend voneinander entfremdet haben, wenn wir endlich Zeit haben für die Gruppe. Wir wissen dann gar nicht mehr warum wir zusammen das Projekt angefangen haben.

Ist also das, was als Luxus erscheint nicht die Basis? Die zentralen Fragen sind doch, was unsere Wünsche und Bedürfnisse sind, was dass ist, um das es uns eigentlich geht, warum wir das ganze machen. Warum will man mit anderen Menschen zusammen leben, wenn es nicht um die anderen Menschen und um das Zusammenleben geht, warum will man ein Kollektiv machen, wenn das „andere Arbeiten“ keine Rolle spielt? Und wann wollen wir mit dem worum es uns eigentlich geht anfangen?

Unsere Projekte leben von unseren Beziehungen zueinander. Diese geben einem Projekt eine gute Basis, oder sind das, woran ein Projekt scheitern kann. Und die müssen gepflegt werden. Wann, wenn nicht jetzt?